Idiocracy
Die Vorstellung, dass man die Menschen vor sich selber schützen müsse, weil sie nicht in der Lage seien, selber zu entscheiden, was für sie gut oder schlecht sei, gehört zum Programm aller Erziehungsdiktaturen. So war es in der Sowjetunion und in NS-Deutschland, in der DDR unter Honecker und in Rumänien unter Ceausescu; so ist es noch immer in Kuba und in Nordkorea – und in verschiedenen Abstufungen auch in vielen anderen Staaten, die zwischen Demokratie und Diktatur chargieren. Das Recht auf Meinungs- und Redefreiheit, auf freie Liebe und Reisefreiheit ist mit einem volkspädagogischen Anspruch nicht vereinbar, dessen harter Kern darin besteht, dass die Menschen zu ihrem Glück gezwungen und vor Unglück bewahrt werden sollen.
Geht man von einem Kontinuum aus, an dessen einem Ende die totale Freiheit und am anderen Ende die absolute Bevormundung steht, dürfte die Bundesrepublik einen Platz in der Mitte einnehmen, mit einer zunehmenden Tendenz in Richtung Bevormundung.
Dabei geht es nicht nur um Regelungen über Ladenschluss und Mindestlohn, die man eigentlich dem Markt überlassen könnte, wenn man das Gerede von der "Tarifautonomie" und dem "mündigen Bürger" ernst meinen würde. Oder um den Sommerloch-Klassiker, wie hoch der Anteil "deutscher" Musik in den Radio-Programmen sein sollte. Es geht um unmittelbare Eingriffe in das tägliche Leben – natürlich immer zum Wohle der Bürger.
Vor ein paar Monaten hat die Bundesregierung eine "Kampagne gegen Fettleibigkeit" angekündigt, die freilich über die Ankündigung nicht hinausgekommen ist. Dann sollte die Mehrwertsteuer auf Schokoartikel erhöht werden, um über den Preis den Absatz der Milchschnitten und Kinderüberraschungseier zu dämpfen. Kaum war dem Übergewicht der Kampf angesagt, war die Magersucht an der Reihe. Die einschlägigen Agenturen sollten sich verpflichten, auf ein Mindestgewicht ihrer Models zu achten und keine Bulimie-Junkies auf den Catwalk zu schicken.
Wäre die Bundesregierung nicht dauerhaft damit beschäftigt, die Pendlerpauschale auf den jeweils von den Gerichten diktierten Stand zu bringen, hätte sie es vielleicht geschafft, verbindliche Gewichtsklassen festzulegen – je nach Alter, Größe, Ausbildung und Beruf. Und nachdem es mit dem Verbot der NPD nicht geklappt hat, sollte wenigstens Scientology dran glauben. Was bis jetzt daran gescheitert ist, dass man zwar viele V-Leute im Vorstand der NPD platzieren, aber keine Informanten aus dem Umfeld von Ron L. Hubbard gewinnen konnte.
Über keine Frage freilich wurde in der letzten Zeit so heftig diskutiert wie über die, ob man es Jugendlichen und jungen Erwachsenen erlauben sollte, sich öffentlich lächerlich zu machen. Sollte man von ihrem Können überzeugte, aber dennoch vollkommen talentfreie Künstler-Darsteller von 16 Jahren aufwärts daran hindern, an Casting-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar" teilzunehmen, um ihnen "Demütigungen" zu ersparen? Oder sollte man sie gewähren lassen, damit sie Erfahrungen sammeln und aus dem voraussehbaren Scheitern lernen können?
Die Frage ist legitim, sie geht nur an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen vorbei. Fast 40 Prozent der 14 bis 16-jährigen Mädchen sind schon sexuell aktiv, bei den gleichaltrigen Jungen sind es fast 30 Prozent, Die Musik, die in dieser Altersgruppe gehört wird, ist sexuell so explizit wie das Verhalten der Jugendlichen. Ein Megahit wie der "Arschficksong" des Berliners Rappers Sido ("super intelligentes Drogen-Opfer" wird in jeder Disko und auf jeder Party gespielt – wie einst der Schlager "Ich heirate Pappi" von Conny Froboess.
Sidos bekanntester Song wurde wegen seines frauenverachtenden Inhalts der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vorgelegt, von dieser aber nicht indiziert. Das dazugehörige Video wurde ab 16 Jahren freigegeben. Inzwischen gehört der rebellische Rapper Sido zum musikalischen Mainstream, 2005 hat er beim Bundesvision Song Contest den dritten Platz belegt und ist öfter bei "TV total" mit Stefan Raab zu sehen.
Ein 16-Jähriger beziehungsweise eine 16-Jährige ist schon zwei Jahre religionsmündig, kann also selber bestimmen, ob und welcher Konfession er beziehungsweise sie angehören möchte, darf mit Erlaubnis der Eltern heiraten und muss nur noch zwei Jahren warten, um wählen zu dürfen. Wenn er beziehungsweise sie Pech hat, findet er beziehungsweise sie keinen Ausbildungsplatz, was freilich auch damit zu tun haben mag, dass etwa 25 Prozent der Hauptschüler die Schule verlassen, ohne richtig lesen und schreiben zu können.
Dass manche in dieser Situation auf die Idee kommen, es im Show-Business zu versuchen, kann man ihnen nicht übel nehmen. Die Teilnahme an DSDS und ähnlichen Programmen bedeutet heute die gleiche Chance für den sozialen Aufstieg wie früher die Aufnahme in den örtlichen Fußballverein. Neun der zehn Kandidaten, die es aus rund 29.000 Bewerbern in die Finalrunde der letzten DSDS-Staffel geschafft haben, stammen aus eingewanderten Familien, was den "Tagesspiegel" zu der Überschrift "Der Migrantenstadl" inspirierte.
Die Chance, nach oben zu kommen, ist minimal, aber realer als die Aussicht auf einen Lottogewinn, auf den jede Woche Millionen vergeblich warten.
Was also spricht gegen Casting-Shows nach DSDS-Art? Dass sie mehr Verlierer als Gewinner produzieren? Dass sie der Selbstüberschätzung der meisten Kandidaten Vorschub leisten? Dass sie die Idee der Leistungsgesellschaft auf die Spitze treiben? Das alles sind richtige Einwände, aber sie gelten auch für die Bundesjugendspiele, bei denen es ebenso darauf ankommt, besser zu sein als der Rest der Meute.
Und an dieser Stelle treten Sozialarbeiter und Pädagogen aus der Kulisse und melden Bedenken an: Der Preis sei zu hoch, vor allem für diejenigen, die es nicht schaffen würden, sie würden von der Jury vor aller Welt abgekanzelt und müssten am nächsten Tag den Hohn und den Spott ihrer Freunde erleiden. Das gäbe ein Trauma, mit dem ein 16-Jähriger nicht fertig würde.
Mit anderen Worten: Sie wissen nicht was sie tun und müssten vor sich selber geschützt werden. Für diese Theorie gibt es zwar keine Belege, aber sie klingt gut, weil sie von Fürsorge zeugt. Zu Ende gedacht, würde sie bedeuten, dass man den Jugendlichen jede Konkurrenz- und Prüfsituation ersparen müsste, um sie nicht über Gebühr zu belasten. Noch besser wäre es nur noch, die Untergrenze der Volljährigkeit heraufzusetzen, am besten gleich auf 30 Jahre oder noch höher, da 18-Jährige kaum die nötige Reife haben, um die Folgen ihrer Entscheidungen zu überdenken – zum Beispiel in der Wahlkabine. Dazu würde auch passen, dass es vor kurzem eine ernst gemeinte Initiative gegeben hat, ein Familienwahlrecht einzuführen, bei dem die Eltern stellvertretend für ihre Kinder abstimmen würden. Eine Familie mit drei Kindern hätte dann fünf Stimmen.
So werden Kinder und Jugendliche zur Verfügungsmasse. Dieselben Eltern und dieselben Erzieher, die es versäumt haben, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, sie für das Leben außerhalb von Coffee-Bar und Disko fit zu machen, wollen ihnen negative Erfahrungen ersparen - just in dem Moment, da sich ihnen die Chance bietet, die Nachteile der Erziehung zu überspringen.
Die Sache hat nicht nur eine erzieherische, sie hat auch eine politische Dimension. Zu den Begriffen, die aus dem Wörterbuch des Alltags gestrichen wurden, gehört auch "Verantwortung". Niemand will mehr verantwortlich sein für das, was er tut oder unterlässt. Die Verantwortung wird outgesourct, am besten auf den Staat, der für alles verantwortlich sein soll - die Bildung, die Erziehung, das soziale Wohlbefinden, die Sicherheit und die gute Laune seiner Bürger.
Früher wurde die Gesellschaft von oben entmündigt, jetzt fängt die Entmündigung unten an, die Gemeinschaft der freien Bürger entmündigt sich freiwillig, der Staat soll's richten. Man kann von Glück sprechen, dass der Staat auf die Unterwerfungsbedürfnisse relativ zurückhaltend reagiert und noch nicht die totale Kontrolle der Untertanen übernommen hat.
Aber: Was nicht ist, kann noch werden. Das ganze Leben ist eine Casting-Show, ein permanenter Talentwettbewerb, bei dem es immer mehr Verlierer als Gewinner geben wird. Deswegen gibt es auch ein Antidiskriminierungsgesetz. Es muss allerdings in die Praxis umgesetzt werden. Dann wird es nur noch Gewinner geben. Alle Männer werden wie George Clooney und alle Frauen wie Heidi Klum aussehen. Ein Alptraum, schlimmer als DSDS.
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