DAS REICHE MÄDCHEN .
... Denn Geld hatte sie genug. Doch ihr fehlte es an Träumen.
Was kann man schon wollen, wenn man alles hat.?
Sie stand am Fenster ihres großen Zimmers.
Sie war es ja auch nicht anders gewohnt. Schon seit Generationen lebte die Familie im Geldueberfluss.
Ihre Hand beruehrte das kalte Fensterglas. Sie erschauderte.
... War das wirklich Luxus.?
Alles zu haben.?
Gefangen in einem goldenen Käfig.?
Sie wusste es nicht.
Sie hatte auch keine Ahnung,
von all den normalen Kindern,
am Stadtrand wohnend, deren Eltern nicht so viel Geld hatten,
die keine Privatschule besuchten,
die wussten, was Freundschaft oder Liebe bedeutete.
Sie hatte zwar in einem ihrer Bücher schon des Öfteren von diesen Wörtern gehört,
aber richtig verstehen konnte sie sie nicht.
... Sie ging wieder zurück zu ihrem Bett.
Schlug ein Buch auf.
Kurz darauf machte sie es wieder zu.
Die Sonne war schon fast nicht mehr zu sehen, so tief stand sie.
Ihr Gesicht spiegelte sich im Fenster.
Sie verspuerte eine Sehnsucht, doch wusste nicht, wonach.
Sie setzte sich hin, überlegte, was ihr fehlte.
Was Luxus wirklich bedeutete.
... Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss. Sie war eingesperrt, abgeschirmt vom Rest der Welt, von der Normalitaet. Die Jalousien waren heruntergezogen, aber kurz vor Einbruch der Nacht kam der Vater ins Zimmer und zog sie hoch.
Er war vor ungefaehr zehn Minuten da gewesen.
Gestern hatte sie etwas von Herzen gelesen. Sie wusste natürlich, dass es ein inneres Organ war, aber ihr war neu, dass es auch als Symbol der Liebe galt. Sie ging wieder zum Fenster. Und formte mit ihren Fingern die halbe Form nach. Sie lächelte.
Außer ihrer Familie, bestehend aus einem Bruder und ihren Eltern, ihrem Privatlehrer und dem Hausmädchen hatte sie noch nie eine andere Person gesehen.
Ihre Hand haftete immer noch in der gleichen Position am Fenster.
Ploetzlich sah sie einen Schatten auf der anderen Seite. Er kam immer naeher. Ihr Herz schlug schnell, schneller als gewöhnlich. Irgendwo hinter ihr rauschte es auf einmal. Íhr Radio hatte sich eingeschalten. Sie drehte sich um und sah das Gerät verwundert an. "[...] Ich hol dich raus, ich hol dich da raus. Halte noch aus. Du wirst seh'n, du kannst zählen auf mich. [...]" toente es. Sie bekam eine Gänsehaut, blickte wieder zum Fenster und fuhr erschroken zusammen.
Ein blonder Junge stand vorm Fenster und blickte hinein.
Sie war nur leicht bekleidet und wickelte sich eine Decke um. Dann trat sie wieder näher an ihr Fenster. Die Musik verstummte wieder. Sie sah nur einen kurzen Moment weg, doch als sie sich wieder zu dem Jungen drehen wollte, war auch er verschwunden.
... Wo war er hin.? Warum ist er gegangen.? Wieder beobachtete sie ihr Spiegelbild im Glas. Ihre Schminke war verwischt, Schuld waren die Tränen, die sich gebildet hatten. Sie wandte sich ab. Als sie zu ihrem Schreibttisch ging, stieß sie aus Versehen gegen ihr Bücherregal. Ein Buch fiel zu Boden und als sie es aufhob, bemerkte sie den ersten Satz auf der Seite, die duch den Fall aufgeschlagen war. "[...] Ich bin die Hoffnung, bitte halt mich am Leben. [...]" Sie bekam es langsam mit der Angst zu tun.
... Doch es war nicht nur Angst, sondern auch Verzweiflung. Sie wollte, dass der Junge wieder kommt. Plötzlich betrat ihr Vater das Zimmer. Er fragte, woher das Geräusch gekommen sei, dass er vernohmen habe und sie erklärte, dass ein Buch aus dem Regal gefallen sei. Der Blick des Vaters schweifte erst über das Buch in der Hand seiner Tochter, dann zum Fenster. Er fragte, ob sie irgendwas gesehen hatte und sie schüttelte mit dem Kopf. Sie hasste es, zu lügen. Doch anscheinend hatte sie ihren Vater mit dieser Antwort befriedigt, denn er verließ das Zimmer.
Langsam ging ihr der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte.
Sie legte sich aufs Bett, schlief ziemlich bald ein.
... Am nächsten Tag stand sie wieder vorm Fenster, die Sonne war wieder fast untergegangen. Sie formte das Herz. Doch diesmal war es vollständig, denn die Finger des Jungen vollendeten das Symbol. Sie wusste nun, was Liebe bedeutete. Denn sie fühlte dieses Gefühl. Sie sah dem Jungen tief in die Augen. Er hauchte an die Glasscheibe und schrieb langsam die Worte "Du bist so wunderschön.". Sie lächelte verlegen. Doch plötzlich war er wieder weg. Aber diesmal fand sie es nicht so schlimm.
Sie wusste, er würde wiederkommen. Sie setzte sich an ihren Computer. Sie musste wissen, wer dieser Junge war. Sie suchte über zwei Stunden- sie hatte den Namen ihrer Stadt eingegeben, alle möglichen Vereine durchsucht, bis sie endlich auf eine Seite stoß.
Es war eine Todesanzeige mit einem Bild von ihm. Er war vor drei Jahren gestorben. Der Grund war, dass er seine große Liebe verlorgen hatte.
...Sie nahm ein Messer und brachte sich um.
Sie dachte, dass sie jetzt bei ihm wäre.
Doch die Todesanzeige galt nicht ihm, sondern seinem Zwillingsbruder.
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Als der Junge am nächsten Tag vor ihrem Fenster stand,
wartete er vergeblich.
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